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Ein großer Tag für Vater Martin
(nach Leo Tolstoi)

Das illustrierte Buch gibt's bei Amazon (empfehlenswert!) - einfach klicken und anschauen!Vor vielen Jahren, da lebte in einem kleinen Dorf im weiten Russland ein Schuhmacher. Er hieß Martin. Aber niemand im Dorf nannte ihn einfach Martin, auch nicht Herr Martin oder Schuster  Martin. Wenn er ins Dorf ging, grüßten ihn die Leute: "Guten Tag , Vater Martin", denn alle hatten ihn gern.
Vater Martin war nicht reich. Alles was er auf dieser Welt besaß, war eine kleine Werkstatt mit einem Fenster zur Dorfstraße. Hier lebte er, hier schlief er und hier arbeitete er.
Aber Vater Martin war auch nicht arm. Er hatte alles was er zum Leben brauchte: sein Werkzeug einen schönen gusseisernen Herd, auf dem er sein Essen kochte und wo er sich die Hände wärmen konnte, einen knarrenden Schaukelstuhl, in dem er gern saß und ein kleines Schläfchen hielt, eine große Öllampe, die er anzündete, wenn es dämmrig wurde, und ein bequemes Bett mit einer Flickendecke.

Es gab genügend Leute, die Schuhe brauchten oder alte repariert haben wollten, so dass Vater Martin immer alle Hände voll zu tun hatte. Vater Martin war immer fröhlich - oder doch fast immer. Seine Augen zwinkerten dann verschmitzt hinter der kleinen runden Brille. Er sang und pfiff den ganzen Tag bei der Arbeit vor sich hin und grüßte fröhlich  die Menschen, die an seine, Fenster vorübergingen. 

Aber einmal war alles anders. Es war Heiligabend und Vater Martin stand traurig am Fenster. Er dachte an seine Frau, die vor vielen Jahren gestorben war, und an seine Söhne und Töchter. Sie waren längst erwachsen und fortgezogen. An diesem Tag feierten sie alle zu Hause bei ihren Familien. Nur Vater Martin war ganz allein. 
Vater Martin schaute die leere Dorfstraße hinauf und hinunter. Aus allen Fenstern fiel das warme Licht von Kerzen und Lichtern. Er hörte die Kinder lachen und über ihre Geschenke jubeln. Der Duft von Gebratenem und Gebackenem drang durch alle Fenster- und Türritzen seiner Werkstatt.
"Kinder, Kinder!", seufzte Vater Martin, und kratzte sich am Kopf. Dann zündete er die Öllampe an, ging zu dem hohen Regal hinüber und holte ein altes Buch mit braunem Einband herunter. Er setze eine Kanne mit Tee auf den Herd und machte es sich in seinem Lehnstuhl bequem. Dann begann er zu lesen.

Ganz langsam las er die Weihnachtsgeschichte. Er las von Maria und Josef und von Jesus, der in einem Stall geboren wurde. "Kinder, Kinder", murmelte Vater Martin und kratzte sich am Kopf. "Wenn sie zu mir gekommen wären dann hätten sie in meinem guten Bett schlafen können. Ich hätte den kleinen Jungen mit meiner warmen Decke zugedeckt. Wie schön wäre es, an Weihnachten Besuch zu bekommen, und erst mit einem kleinen Kind!" Draußen kroch der Nebel ums Haus. Vater Martin musste die Lampe heller drehen. Er stand auf und schürte das Feuer im Ofen. Dann goss er sich eine Tasse Tee ein und las weiter. Und er las von den drei Königen die durch die Wüste kamen und kostbare Geschenke brachten.. "Kinder, Kinder !" seufzte Vater Martin, "Wenn Jesus zu mir gekommen wäre, hätte ich gar nichts für ihn gehabt." Doch dann lächelte er und seine Augen funkelten hinter der kleinen runden Brille. Er stand auf und ging zu einem Regal. Oben stand eine staubige Schachtel, die fest verschnürt war. Er öffnete sie und holte ein Paar winzige Schuhe daraus hervor. Vater Martin betrachtete die kleinen kostbaren Schuhe liebevoll. Es waren die schönsten Schuhe, die er jemals gemacht hatte; und die ersten Schuhe seiner Kinder. "Die kleinen Schuhe hätte ich ihm gegeben". Sorgfältig packte er sie wieder ein und las weiter und nach einer Weile schlief er über dem Buch ein. 

Draußen wurden die Nebelschwaden immer dichter. Wie Schatten huschten sie an seinem Fenster vorüber. Aber Vater Martin schlief fest und schnarchte leise. Plötzlich hörte er deutlich eine Stimme: "Vater Martin!" Der alte Mann sprang auf .Sein grauer Schnurrbart zitterte. "Wer ist da?" rief er. Ohne Brille, die ihm beim Schlafen runter gerutscht war konnte er nur schlecht sehen, aber im Zimmer schien niemand zu sein. "Vater Martin!" hörte er wieder die Stimme." Du hast dir gewünscht dass ich dich besuche. Achte morgen auf die Straße. Denn morgen werde ich zu dir kommen. Aber pass genau auf, damit du mich erkennst; denn ich sage dir nicht, wer ich bin."

Dann war alles wieder still. Vater Martin rieb sich die Augen. Das Feuer im Ofen war aus und die Lampe war verloschen. Draußen hörte er von überallher Glocken läuten: Heute war ja Weihnachten!
"Das war er", sagte der alte Mann zu sich selbst. " Vielleicht habe ich auch bloß geträumt? - Nun, ich werde jedenfalls morgen genau aufpassen, - Aber woran soll ich ihn erkennen? Er ist ja kein kleines Kind geblieben. Später war er ein erwachsener Mann, ja ein König. Man sagt sogar, er war Gott selber." Vater Martin wiegte den Kopf. "Kinder, Kinder " , murmelte er, "ich muss gut aufpassen."

Vater Martin ging in dieser Nacht nicht mehr ins Bett. Dazu war er viel zu aufgeregt. Er saß in seinem  Lehnstuhl, schaute immer wieder aus dem Fenster und beobachtet aufmerksam die ersten Leute, die am frühen Morgen an seinem Haus vorbei gingen. Vater Martin kochte sich einen Tee und ließ dabei das Fenster nicht aus den Augen. Endlich tauchte am Ende der kleinen Gasse ein Mann auf. Gespannt schaute Vater Martin aus dem Fenster. War es Jesus? Doch als der Mann näher kam, trat Vater Martin enttäuscht zurück. Es war der alte Straßenkehrer, der jede Woche mit einem Reisigbesen die Straße fegte. Vater Martin ärgerte sich ein wenig. Schließlich hatte er Besseres zu tun, als nach einem alten Straßenkehrer Ausschau zu halten. Er wartete doch auf den König Jesus. Enttäuscht wandte er sich von dem Fenster ab. Er wartete, bis der alte  Mann vorrübergegangen sein musste, und schaute wieder nach draußen.
Doch der Straßenkehrer war auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen geblieben. Er stützte sich schwer auf seinen Besen, rieb sich die Fäuste und stapfte mit den Füßen. Wahrscheinlich fror der alte Mann erbärmlich. Und überhaupt, dass er an Weihnachten arbeiten musste! Vater Martin bekam Mitleid. Er klopfte an die Fensterscheibe, aber der Alte hörte es nicht. Darum öffnete Vater Martin die Tür einen Spalt breit. "He!", rief er "He, Brüderchen!" Der Alte Mann blickte erschreckt um sich - die Leute behandelten einen Straßenkehrer oft sehr unfreundlich. Aber Vater Martin lächelte.  "Wie wäre es mit einem Tässchen Tee?" , fragte er, "Du siehst aus, als ob du bald zu einem Eiszapfen erstarrt bist." Der Straßenkehrer ließ sich nicht zweimal bitten. "Vergelt’s Gott", murmelte er verlegen, als er in die warme Schuhmacherwerkstatt trat. "Das ist sehr gütig von Euch, Väterchen, sehr gütig." Vater Martin goss ihm aus der Kanne heißen Tee ein . "Nicht der Rede wert ", Sagte er über die Schulter . Schließlich feiern wir heute Weihnachten." " Ach ja Weihnachten.- Dies ist mein einziges Weihnachtsgeschenk." Der alte Mann putzte sich die Nase . Während er am Ofen saß, dampften seine feuchten Kleider und trockneten langsam. Vater Martin kehrte zu seinem Platz am Fenster zurück und beobachtete weiter die Straße. "Wartest wohl auf Besuch?", fragte der alte Straßenkehrer mit rauher Stimme. "Ich bin ungelegen, stimmt’s?" 
Vater Martin schüttelte den Kopf. "Nein , ich ... Nun ja, hast du schon mal etwas von Jesus gehört?" "Gottes Sohn?" fragte der alte Mann. "Ja. Er will heute zu mir kommen.", erklärte Vater Martin. Dann erzählte er, was sich in der Nacht zugetragen hatte. Der Straßenkehrer stellte seine Tasse beiseite und schüttelte den Kopf: "Nein, was es alles gibt!", sagte er. "Viel Glück, und viele Dank für den Tee." Dann ging er.

Vater Martin  folgte ihm bis zur Tür und winkte ihm nach. Eine blasse Wintersonne stand nun am Himmel. Ihre Strahlen gaben gerade so viel Wärme, dass auf den Pflastersteinen und an der Fensterscheibe das Eis zu tauen begann. Jetzt waren noch mehr Leute unterwegs. Viele nickten Vater Martin und wünschten Frohe Weihnachten. Vater Martin nickte und lächelte zurück, aber Lust zu einem Schwätzchen hatte er nicht. Er wartetet auf einen anderen Gast.. 
Gerade wollte Vater Martin die Tür wieder zu machen, da fiel sein Blick auf eine zerlumpte Gestalt. Es war eine junge Frau. Sie trug ein Kind auf dem Arm und sah abgemagert und erschöpft aus. "Hallo", rief Vater Martin, "wollt ihr nicht hereinkommen und euch ein wenig aufwärmen?" Ängstlich blickte die Frau auf. Sie schien einen Augenblick zu überlegen, ob sie nicht besser wegrennen sollte. Aber dann sah sie die fröhlichen Augen hinter Vater Martins Brille. "Sie sind ein guter Mensch", sagte die junge Frau, als sie in das kleine Zimmer trat. Vater Martin zuckte mit den Achseln." Hast du noch einen weiten Weg vor dir - mit dem Kind?", fragte er. "Bis ins nächste Dorf ist es ein gutes Stück", antwortete sie leise. Dort habe ich Verwandte, bei denen wir vielleicht bleiben können. Ich habe keinen Mann wissen Sie....." 
Vater Martin nahm das kleine Kind auf seinen Arm. " Wollt ihr etwas Brot und Suppe mit mir essen?", fragte er. Aber die Frau schüttelte stolz den Kopf. "Aber wenigstens etwas Milch für den Kleinen, ich mache sie schnell auf dem Herd warm. Keine Sorge", Vater Martin zwinkerte mit den Augen, "ich habe selber Kinder gehabt." Das Kind lachte und strampelte mit den Beinen. "Kinder, Kinder", sagte Vater Martin kopfschüttelnd, "der arme Kleine hat ja gar keine Schuhe an!" "Dafür haben wir kein Geld", seufzte die junge Frau bitter. Vater Martin kratzte sich am Kopf. Ein Gedanke machte ihm zu schaffen. Die Schachtel auf dem hohe Regal! Die kleinen Schuhe, die er vor langer Zeit gemacht hatte! Vater Martin nahm zögernd die Schachtel vom Regal. Die Schuhe passten dem Kleinen, als wären sie extra für ihn angefertigt worden. "Hier nehmen sie diese", sagte Vater Martin . Die junge Frau war überrascht. "Wie kann ich ihnen nur danken?“, rief sie glücklich.
Aber Vater Martin hörte schon nicht mehr richtig zu. Verstohlen blickte er zum Fenster hinaus. "Ist irgend etwas nicht in Ordnung?", fragte die junge Frau besorgt. "Heute ist doch Weihnachten", sagte Vater Martin. "Da kam Jesus zur Welt." Die Frau nickte. "Jesus will heute zu mir kommen", erklärte Vater Martin, "er hat es mir versprochen." Und dann erzählte er von seinem Traum - wenn es wirklich nur ein Traum war. Die junge Frau hörte aufmerksam zu. Sie schien den Worten des alten Schuhmachers nicht ganz zu glauben, aber zum Abschied drückte sie ihn dankbar die Hand. "Ich hoffe, dass er kommt", meinte die Frau. " Sie haben es wirklich verdient. Sie waren so gut zu mir und zu meinem Kind." Vater Martin schloss die Tür hinter der Frau. Dann stellte er den Topf mit der Kohlsuppe aufs Feuer und kehrte zu seinem Fensterplatz zurück.

Die Stunden vergingen. Vater Martin  schaute sich jeden der Menschen genau an, die an seinem Fenster vorbei gingen. Aber Jesus war nicht dabei. Plötzlich bekam er Angst. Vielleicht war Jesus vorbeigegangen und er hatte ihn nicht erkannt. Vielleicht war er ganz schnell gegangen, gerade als Vater Martin für ein paar Sekunden nach dem Feuer oder der Suppe geschaut hatte ... Er rannte zur Tür. Draußen waren allerlei Menschen unterwegs. Kinder, alte Männer und Frauen, Bettler, fröhliche und traurige Leute. Einige grüßte er mit einem Lächeln, andere nur mit einem Nicken. Aber Jesus war nicht dabei.

Als es dunkel wurde und der graue Dezembernebel wieder durch die Straßen kroch, zündete der Schuster traurig seine Öllampe an und setzte sich in de Schaukelstuhl. Er nahm wieder das Buch zur Hand. Aber sein Herz war zu schwer und seine Augen zu müde, um die Worte zu entziffern. "Es war doch alles nur ein Traum", dachte er verzagt. "Und ich hatte mich so darauf gefreut, dass Jesus zu mir kommt." Tränen stiegen in seine Augen, so dass er kaum noch etwas sehen konnte. 

Doch plötzlich war ihm, als sei er nicht mehr allein im Zimmer. Zogen da nicht Menschen durch  die Werkstatt? Vater Martin wischte sich die Tränen aus den Augen. Waren das nicht der Straßenkehrer und die junge Frau mit ihrem Kind - all die Leute, die er heute gesehen und gesprochen hatte? "Hast du mich nicht  erkannt? Hast du mich wirklich nicht erkannt, Vater Martin ?" , fragten sie im Vorbeigehen. "Wer seid ihr?" rief der alte Schuster. "Sagt es mir!" Da hörte Vater Martin  dieselbe Stimme wie in der Nacht zuvor, obwohl er nicht hätte sagen können, woher sie kam: "Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mit zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mit zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Wo immer du heute einem Menschen geholfen hast, da hast du mir geholfen!" 
Dann war alles wieder still. "Kinder, Kinder!" murmelte Vater Martin leise und kratzte sich am Kopf. "Dann ist er also doch gekommen! Dann hat Jesus mich tatsächlich besucht!" Er lächelte und seine Augen zwinkerten fröhlich hinter der kleinen Brille.

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