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Autor: Irmgard Schertler 
Ein Wintermärchen

Es war einmal vor langer langer Zeit in einem fernen Land ... . Es war
Winterszeit, aber kein Schnee war weit und breit zu sehen. Es war bitter
kalt, und die Weiher und Seen waren zugefroren. Aber es hatte schon lange
nicht mehr geschneit. Die Kinder schlidderten zwar ab und zu auf dem
gefrorenen Eis herum, aber sie sehnten sich danach, Schneemänner und -burgen
bauen zu können und Schlitten zu fahren. Sehnsuchtsvoll sahen sie immer
wieder nach oben, ob nicht endlich die ersehnten Schneeflocken sanft vom
Himmel herab wirbelten.

Nicht nur die Kinder, auch die jungen Männer und Mädchen sehnten den Schnee
herbei. Sie hatten immer solch fröhliche Spiele im Schnee veranstaltet. Doch
jetzt sah man kaum jemand von den jungen Leuten draußen. Es war ihnen
einfach zu kalt - und zu trostlos. Ein junger Mann, den sie Jan nannten,
machte sich darum eines Tages auf, die Winterkönigin zu suchen. Er wusste
nur aus Erzählungen, wo sie leben sollte. Aber er war zuversichtlich, sie zu
finden. Und dann wollte er sie bitten, es endlich wieder schneien zu lassen.

Frohen Mutes schritt er aus, warm eingepackt in einen langen Mantel, eine
wärmende Mütze und dicke Stiefel. Lange Stunden wanderte er so dahin; immer
weiter ging es durch diese kalte eisige Landschaft. Überall war nur Eis zu
sehen und kahle, frierende Bäume, die ihre nackten Äste in die frostige Luft
streckten.

Als er schon fast nicht mehr daran glaubte, dass er jemals etwas anderes zu
sehen bekäme, erreichte er ein großes Tor. Seltsam sah dieses Tor aus: Es
bestand aus gefrorenem Eis, und war über und über mit großen
Schneekristallen bedeckt. Es glitzerte und funkelte nur so in dem Schein der
Wintersonne! Jan betrachtete voller Freude die wunderschönen funkelnden
Schneekristalle. Doch wie fassungslos war er, als er durch das Tor trat: so
weit er schauen konnte, war alles mit einer dicken Schicht aus weißem
flaumigem Schnee bedeckt. Tief sanken seine Füße in dem dichten Schnee ein,
als er weiter ging.

Er konnte sich nicht satt sehen an dem zauberhaften Anblick. Wie berauscht
war er von dem Bild, das sich seinen Augen darbot. Wie lange hatte er schon
nicht mehr so eine dicke Schneedecke gesehen? Zwei, drei - viele viele
Jahre! Die Äste der Bäume bogen sich von der dichten Schneelast, die sie
bedeckte. Alles war mit einer dicken Schneemütze bedeckt - so weit das Auge
reichte. Und überall standen Statuen aus Eis herum, die seltsam echt
wirkten.

Jan stapfte weiter durch den dichten Schnee, bis er an einem mächtigen
Eispalast ankam. Das Tor stand offen, ... und gerade kam ein anmutiges Wesen
aus diesem Tor, dessen Anblick Jan den Atem anhalten ließ: es war eine junge
Frau von berückender Schönheit. Sie war von schlanker Gestalt, mit langen
Haaren in kühlem Blond. Ihre Augen waren von einem Blau, so blau wie der
Winterhimmel. Ihr Kleid glitzerte über und über von Eiskristallen, und der
dicke Mantel, den sie darüber trug, war so weiß und weich wie die
Schneedecke um sie herum.

Mit sanfter Stimme sprach die Winterkönigin zu Jan: "Sei willkommen in
meinem Reich! Sieh dich um, all das Schöne soll nur für dich sein. Es wäre
schön, wenn du bei mir bleiben würdest, denn ich bin immer so alleine." Jan
war bezaubert von dem schönen Wesen, und hätte alles versprochen, was sie
nur wollte. Er ließ sich von ihr bewirten mit den herrlichsten Speisen,
machte lange Spaziergänge mit ihr und lauschte gebannt dem sanften Klang
ihrer Stimme.

Er spürte, dass seine Anwesenheit die Winterkönigin glücklich machte. Doch
trotzdem lag immer ein Hauch von Schwermut über ihrem Wesen. Er konnte sich
nicht erklären, warum sie so traurig war. Schon längst hatte er vergessen,
weswegen er sich überhaupt auf den Weg zu ihr gemacht hatte. Sein ganzes
Sinnen war danach ausgerichtet, in der Nähe der bezaubernden jungen Frau zu
sein.

Aber - am Anfang noch unmerklich, doch dann immer offensichtlicher - begann
sich Jan zu verändern: seine Haut wurde kalt und fahl, das Blut pulsierte
nicht mehr so lebensfroh durch die Adern; es wurde immer schwerer für ihn,
zu atmen und sich zu bewegen. Bis, ... ja, bis er zu Eis erstarrt war. Der
letzte Gedanke, der ihn durchzuckte, war: `Jetzt weiß ich, welche Bewandtnis
es mit den so echt wirkenden Statuen auf sich hat!´ Doch diese Erkenntnis
kam für ihn zu spät.

Traurig sah die Winterkönigin auf den zu Eis gewordenen Jan - sie konnte
nichts dagegen tun. Alle, die den Weg in ihr Reich gefunden hatten, waren zu
Eis erstarrt, nachdem sie eine Weile hier bei ihr waren. Nichts konnte diese
Entwicklung aufhalten. Wehmütig streichelte sie der Eisgestalt über die
Wangen, und ging wieder in ihren Eispalast zurück.

In dem Dorf, aus dem Jan stammte, wartete ein junges Mädchen sehnsuchtsvoll
auf die Rückkehr des jungen Mannes. Jeden Tag hielt sie Ausschau nach ihm -
und jeden Tag aufs Neue musste sie enttäuscht umkehren. Da fasste Katja, wie
das junge Mädchen genannt wurde, einen Entschluss: sie wollte losgehen und
Jan suchen. Entschlossen zog sie warme Sachen an und machte sich auf den
Weg.

Als sie einige Zeit gegangen war, traf sie am Rande eines Dorfes ein
weinendes Mädchen. Teilnahmsvoll fragte sie: "Warum weinst du?" Da blickte
das Mädchen auf und entgegnete traurig: "Seit einem Jahr warte ich auf die
Rückkehr von meinem Liebsten. Er war losgegangen, um die Winterkönigin zu
suchen und sie zu bitten, es endlich schneien zu lassen. Aber er kehrte nie
zurück." Katja nickte dem Mädchen aufmunternd zu und bat sie, doch
mitzukommen. Denn auch sie suche nach ihrem Liebsten, der eines Tages
einfach losgegangen war, wahrscheinlich mit dem selben Vorhaben.

Als die beiden weitergingen, trafen sie im nächsten Dorf wieder ein
weinendes Mädchen, das eine ähnliche Geschichte erzählte. Und auch in allen
weiteren Dörfern, durch die sie kamen, trafen sie Mädchen, die
sehnsuchtsvoll auf ihre Liebsten warteten, die schon so lange fort waren.
Die Schar der jungen Mädchen wurde immer größer, denn alle hatten sich
entschlossen, sich der Suche nach dem Reich der Winterkönigin anzuschließen.

Lange mussten sie durch die kalte Eislandschaft wandern, bis sie endlich an
dem Tor aus Schneekristallen ankamen, welches der Eingang in das Reich der
Winterkönigin war. Sie sahen sich bezaubert um: Wie wunderschön es hier war!
Wie herrlich doch der dichte weiße Schnee aussah, der unter ihren Füßen
knirschte und wie dicke weiße Watte auf den Zweigen der Bäume lag!

Doch als sie weitergingen, sahen sie die Statuen aus Eis, und nach und nach
schrie jedes der Mädchen laut auf. Sie riefen den Namen des Liebsten, der da
in Eis verwandelt vor ihnen stand. Verzweifelt mussten sie feststellen, dass
alle Statuen leblos und kalt vor ihnen standen. Nichts war mehr von dem
warmen Leben zu spüren, das einst durch ihre Adern pulsierte.

Katja ging weiter. Sie hatte als einzige ihren Jan noch nicht gefunden. Als
sie vor dem Eispalast angelangt war, der in kalter Pracht vor ihr stand,
entdeckte sie endlich die zu Eis erstarrte Figur. Sie lief weinend auf Jan
zu und umarmte ihn voller Mitleid. Sie streichelte über sein Gesicht und
vergoss heiße Tränen über das, was mit ihm geschehen war. Sie konnte einfach
nicht glauben, dass der ganze weite Weg umsonst sein sollte. Immer neue
Tränen quollen aus ihren Augen hervor und tropften auf die zu Eis gewordene
Gestalt.

Doch plötzlich begann sich die Eisstatue zu bewegen. Sie wurde warm und
weich ... und Jan stand wieder lebendig vor ihr. Er konnte es gar nicht
fassen, dass er gerettet war. Er umarmte und herzte seine Katja, und bat sie
immer und immer wieder um Verzeihung, dass er sie so einfach verlassen und
hier bei der Winterkönigin auf sie und ihre Liebe vergessen hatte. Katja war
überglücklich, dass Jan wieder lebendig vor ihr stand und verzieh ihm gerne
alles.

Von allen Seiten kamen nun auch die anderen Mädchen herbei, die genauso
heiße Tränen um ihre Liebsten vergossen hatten und diese dadurch erlöst
hatten. Viele viele Paare hielten sich eng umschlungen, kaum glaubend, dass
der böse Spuk nun ein so glückliches Ende gefunden hatte. Alle redeten und
lachten durcheinander.

Plötzlich ging das Tor des Eispalastes auf, und die Winterkönigin trat
heraus. Als die Mädchen die Traurigkeit in ihren Augen sahen, war ihr Zorn
schnell verraucht. "Es tut mir leid, was euren Liebsten geschehen ist. Ich
weiß, es war egoistisch von mir, sie hier zu behalten, obwohl ich doch
wusste, dass sie zu Eis erstarren würden. Ich war doch so allein hier in
meinem riesigen Reich, und freute mich über jede Gesellschaft, auch wenn sie
nicht von Dauer sein konnte. Wie bin ich froh, dass ihr sie mit eurer Liebe
wieder zum Leben erwecken konntet!
 

Katja war die erste, die sich ein Herz fasste. "Bitte, liebe Winterkönigin,
bitte schick uns doch auch in unsere Dörfer diesen herrlichen Schnee! Viele
lange Jahre hat es schon nicht mehr bei uns geschneit. Wir werden dir immer
dankbar dafür sein, und du kannst uns alle in unseren Dörfern besuchen. Wir
werden versuchen, dir gute Freunde zu sein - wenn du nur willst.

Die Winterkönigin sah erst erstaunt, doch dann freudig auf das junge
Mädchen. "Ich werde es mir überlegen. Für`s erste wünsche ich euch eine gute
Heimkehr, und dass euer Glück ewig halten möge. Vielleicht komme ich euch in
den nächsten Tagen besuchen. Wer weiß! Meine guten Wünsche werden euch auf
eurem Heimweg begleiten. Auf Wiedersehen!

"Auf Wiedersehen!" riefen da alle fröhlich und machten sich munter auf den
Nachhauseweg. Jeder der jungen Männer, die jetzt wieder so lebendig und
lebenssprühend waren, hatte dabei seine Liebste ganz eng an sich gezogen.
Jan hatte auch seine Katja ganz eng zu sich hergezogen und ging mitten unter
den Leuten dahin.

Da rief plötzlich ein Mädchen voller Entzücken: "Es schneit! Seht doch, die
vielen wunderschönen Schneeflocken!" Alle blickten voll andächtigem Staunen
zum Himmel, von dem ein immer dichter werdendes Heer von glitzernden
funkelnden Schneekristallen herabwirbelte. Dann brach ein nicht enden
wollender Jubel aus. Sie konnten das Wunder nicht fassen, das da so sanft
auf sie herabtänzelte. So lange Jahre hatte es nicht mehr geschneit. Und nun
kam endlich die ersehnte Pracht vom Himmel herab!

Fröhlich kehrten die jungen Leute in ihre Dörfer zurück. Sie erzählten den
staunenden Menschen dort die Geschichte von der Winterkönigin, und wie
einsam sie in ihrem Reich gewesen war. Und dass sie nun allen Menschen ihren
Schnee schenkte und sie bald besuchen käme. Von nun an war die Winterkönigin
nicht mehr alleine, denn wo sie auch hinkam, wurde sie freudig begrüßt, und
alle dankten ihr für den wunderbaren Schnee, den sie den Menschen geschenkt
hatte ...
 

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