Die Wunderkerze
(Nacherzählt von Rudi
Erbler nach einer irgendwann gehörten und mündlich überlieferten
Geschichte)
Habt ihr etwas Zeit, um euch mit mir hinzusetzen
und euch eine Geschichte anzuhören? Dann zünden wir uns doch
einmal eine Kerze an.
In einem kleinen Haus am Rande eines Dorfes lebte die Familie Armani. Da
war einmal die Mutter-Armani, die gerne in ihrer Küche neue Kreationen
von Süßigkeiten erfand, welche sie dann in ihrem kleinen Zuckerbäckergeschäft
verkaufte. Vater-Armani war Rauchfangkehrer in dem kleinen Dorf. Und dann
gab es in der Familie noch zwei Kinder, - eine Tochter und einen Sohn namens
Liese und Franz.
Leider
beginnen wir, die Geschichte aber gerade zu einer Zeit zu erzählen,
in der es zwischen den beiden Elternteilen sehr oft zu Streitigkeiten und
Missverständnissen kam. Oft sprachen sie dann einen Tag und eine Nacht
nichts mehr miteinander. Die Kinder waren über diese Situation sehr
unzufrieden und beobachteten die Situation zwischen den Eltern mit Besorgnis
und auch mit einer beängstigenden Hilflosigkeit. Liese und Franz liebten
sowohl ihre Mutter als auch ihren Vater sehr. In ihrer Not beschlossen
die Kinder, die alte Geschichtenerzählerin um Rat zu fragen. Zu ihr
hatten sie großes Vertrauen, saßen sie ja jeden Samstag am
Nachmittag mit vielen anderen Kindern bei ihr und hörten ihren Geschichten
zu.
Diesmal hörte aber die Erzählerin aufmerksam den beiden Kindern
zu. Als die Kinder ihre Sorgen zu Ende erzählt hatten, nickte die
weise Geschichtenerzählerin mit dem Kopf und blickte dann einige Zeit
schweigsam in die Kerze, die vor ihnen auf dem Tisch stand. Es war eine
weiße Kerze mit vielen bunten Verzierungen und geheimnisvollen Mustern,
die so groß war, dass sie wohl noch viele Tage Licht geben würde.
Die Flamme hüllte den Raum in lebendiges und warmes Licht. Ihre Bewegungen
zauberten verschiedenste Schatten in den Raum. Sie strahlte eine angenehme
Wärme und Ruhe aus.
Da blickte die Erzählerin auf
die beiden Kinder und sagte: „Ich glaube, ich kann euer Problem lösen.
Ich schenke euch diese Kerze.“ Die Kinder schauten erstaunt in die Augen
der weisen Frau, „... und wie soll uns diese Kerze helfen?“ „Dies ist keine
gewöhnliche Kerze. Es ist eine Wunderkerze.
Immer wenn Probleme und schwierige Situationen auftauchen, zündet
die Kerze an und schaut in die Flamme. Sie wird Euch helfen, Eure Probleme
zu lösen.“ Dankbar nahmen Liese und Franz die Kerze nach Hause mit.
Am
Abend sprachen Mutter und Vater wieder einmal kein Wort miteinander. Da
nahmen die beiden Kinder allen Mut zusammen, stellten die Kerze mit ihren
bunten und geheimnisvollen Verzierungen auf den Tisch und erzählten
den Eltern von dieser Wunderkerze, die sie von der Geschichtenerzählerin
geschenkt bekommen hatten. Mutter und Vater setzten sich zu ihnen an den
Tisch. Vater nahm ein Schwefelholz und entzündete die Kerze. Lange
Zeit genossen sie das lebendige Licht, beobachteten die Schatten im Raum
und ließen sich innerlich erwärmen. Mutter und Vater rückten
näher zusammen und nahmen sich gegenseitig in den Arm. Die Kinder
zogen sich in ihre Zimmer zurück und hörten, wie ihre Eltern
noch lange in der Nacht miteinander sprachen. Ab diesem Abend saß
die Familie immer wieder am Abend vor ihrer Wunderkerze, um ihre Gesichter
von dem sanften Kerzenschein umspülen zu lassen. Mutter und Vater
redeten viel miteinander und es gab keine andauernden Streitigkeiten mehr.
Die Kerze hatte ihr erstes Wunder vollbracht.
Nach einiger Zeit bekam Franz Probleme
in der Schule. Seine Noten verschlechterten sich und die Lehrer waren nicht
zufrieden. Sogar die Eltern wurden vom Schuldirektor zu einem Gespräch
eingeladen. Franz wusste nicht, was er tun sollte. Er würde vermutlich
in diesem Schuljahr den Aufstieg in die nächste Klasse nicht schaffen.
Der Vater wusste auch keinen Rat und so zündeten sie wieder die Wunderkerze
an. Lange Zeit genossen sie das lebendige Licht, beobachteten die Schatten
im Raum und ließen sich innerlich erwärmen. Im Schein der Kerzenflamme
beschloss Franz, wieder mehr Zeit seinen Schulbüchern zu widmen und
nicht immer nur im Ort herumzustreifen. Tatsächlich verbesserten sich
seine Schulleistungen täglich und Franz schaffte den Aufstieg in die
nächste Klasse. Und wieder hatte die Kerze ihr Wunder vollbracht.
Eines
Tages schienen der Mutter die Ideen für neue Zuckerbäckereien
auszugehen – damit gingen auch die Einnahmen aus ihrem Geschäft zurück.
Mutter wusste, was sie tun musste. Sie zündete sich die Wunderkerze
an und genoss das lebendige Licht, beobachtete die Schatten im Raum und
ließ sich innerlich erwärmen. Für einige Zeit vergaß
sie dabei ganz ihre Rezepte für Bäckereien und nahm sich auch
ein Märchenbuch zur Hand, um darin zu lesen. Am nächsten Tag
zierte die Auslage des Zuckerbäckerladens eine Schneewittchenbonboniere,
welche Schneewittchen und die sieben Zwerge aus Zucker darstellte. Außerdem
erfand sie eine Schokolade, die den zarten Zungen von Katzen ähnlich
sah. Diese Süßigkeit wurde in unserer Zeit wieder entdeckt und
wird nun „Katzenzungen“ genannt. Im Schein der Kerze gingen Mutter die
Ideen nicht mehr aus, wobei sie manchmal auch einfach zeichnete oder Geschichten
las.
Vater
entdeckte im Schein der Wunderkerze, dass eine Veränderung der Besenform,
seine Arbeit erleichtern konnte. Außerdem entwarf er neue Kaminformen,
die den Leuten gefielen. So erkannte er, dass die Zusammenarbeit mit dem
örtlichen Kaminbauer beiden zu gemeinsamen Vorteil gereichte. Die
Zusammenarbeit wurde von beiden übrigens im Schein der Wunderkerze
beschlossen.
Liese schrieb im Licht der Wunderkerze
einige schöne Gedichte, die in der Schulzeitung abgedruckt wurden
und den Lesern viel Freude bereiteten.
So
wären noch viele Wunder aufzuzählen, die von der geheimnisvollen
Kerze im Laufe der Jahre vollbracht wurden. Viele Freunde, auch der Bürgermeister
holten sich Rat durch die Wunderkerze. Die Familie Armani wurde eine sehr
glückliche Familie. Und die Kinder hörten weiterhin jeden Samstag,
Geschichten bei der alten weisen Geschichtenerzählerin.
Eines Abends erlosch die Flamme der Kerze,
da sie völlig heruntergebrannt war. Mit ungläubigen Augen saß
die Familie Armani vor den Resten der Wunderkerze. Waren die schönen
Zeiten jetzt vorbei? War mit der Kerze auch das Glück der Familie
erloschen? Die Kinder wussten Rat. Sie würden einfach zur Geschichtenerzählerin
gehen und nach einer neuen Wunderkerze fragen.
„Liebe Geschichtenerzählerin,
wir brauchen unbedingt eine neue Wunderkerze, denn unsere Kerze ist heruntergebrannt.
Wie sollen wir jetzt unsere Probleme lösen?“ Die alte Frau schaute
die beiden Kinder und ihre Eltern an und sagte: „Ich muss euch gestehen,
dass ich euch nicht die Wahrheit erzählt hatte. Die Wunderkerze, die
ich euch gegeben habe, war in Wirklichkeit eine ganz normale Kerze. Wichtig
war nur, dass ihr Euch im Schein der Kerze Zeit und Ruhe für euch
genommen habt. So habt ihr eure Probleme einfach selbst gelöst, in
dem ihr euch Zeit genommen habt, in euch selbst zu schauen.“
Tja
... so ist wohl jede beliebige Kerze eine Wunderkerze.
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