Vor
einiger Zeit trug sich bei einem Bergbauernhof in verschneiter, märchenhafter
Landschaft folgende Geschichte zu:
Im Hof des Bauernhofes
wuchsen sechs schöne Tannen, zwei der Tannen waren ungefähr so
alt wie die Bauersleute und die anderen waren erst zu einem späteren
Zeitpunkt gepflanzt worden. In besagtem Jahr vor Weihnachten sollte die
älteste Tanne gefällt werden, um den oberen Teil – den Wipfel
- zu heilig Abend in die Stube als bunt geschmückten Weihnachtsbaum
zu stellen. Der Rest der Tanne sollte zu Möbeln und Brennholz verarbeitet
werden. So geschah es jedes Jahr zu Weihnachten. Aber die Bäume wurden
meist aus dem angrenzenden Wald geholt.
Der
Bauer hatte vier Kinder – zwei Mädchen und zwei Buben -, die gerne
unter den sechs Tannen spielten. Als sie nun – zwei Wochen vor dem heiligen
Abend – unter den sechs Tannen einen Schneemann bauten, nahmen sie plötzlich
eine leise Stimme wahr. Vorerst konnten die Kinder die Herkunft der Stimme
nicht feststellen und erst als sie lauter sprach, bemerkten die Kinder,
wer zu ihnen sprach. Es war die älteste Tanne der sechs Tannen, die
zu ihnen sprach: „Könntet ihr mich zu heilig Abend nicht draußen
im Hof schmücken? Wenn ich als Weihnachtstanne gefällt werde,
muss ich in ein paar Wochen sterben. Dabei spüre ich doch so gerne
den Wind in meinen Zweigen und lausche den Vögeln und Tieren um uns.
Außerdem bereitet es mir viel Freude, wenn ich unter mir spielt,
singt und lacht. Und auch der Bauer genießt gerne meinen Schatten,
während er seine Pfeife raucht oder über etwas nachdenkt. Ich
bin ja auch sein Lebensbaum, obwohl er dies offenbar bereits vergessen
hat.“ Die
Kinder waren überrascht, dass die große Tanne sprechen konnte.
Da sie aber aufgeweckte und neugierige Kinder waren, fanden sie bald ihr
Fassung wieder und begannen eine interessantes Gespräch mit der Tanne.
Sie erfuhren, dass diese Tanne eben eine besondere Tanne war – wie auch
die anderen Tannen ihrer sechsköpfigen Familie. Sie waren noch persönlich
von ihrem Großvater gepflanzt worden, der erst vor zwei Jahren kurz
nach Weihnachten verstorben war. Jede der Tannen war zur Geburt eines Kindes
gepflanzt worden. Die
älteste Tanne war der Lebensbaum des Bauern. Die zweitälteste
Tanne war der Lebensbaum der Schwester des Bauern, die nun mit einem Tischler
im Tal verheiratet war. Der Lebensbaum der Bäuerin war übrigens
eine Buche, die im Hof eines Bauern eine Tagesreise weiter stand. Seit
vielen Jahrhunderten sei es üblich, dass die Väter für ihre
neugeborenen Kinder Lebensbäume pflanzten. Und eigentlich sollten
diese Bäume erst frühestens nach dem Tod des Besitzers der Lebensbäume
gefällt werden, um als Möbelstücke oder Weihnachtsbäume
noch einmal die letzte Ehre zu erhalten. So sei dies auch mit dem Baum
ihres Großvaters geschehen, der ihr letzter Weihnachtsbaum gewesen
sei. Der dicke untere Stamm stand übrigens jetzt als Spielzeugtruhe
im Zimmer der beiden Mädchen.
Die
vier Kinder versprachen der sprechenden Lebenstanne, ihren Vater zu überzeugen,
dass sie für ihn wichtig war und unbedingt weiter wachsen müsse.
Nun – ihr könnt euch sicher vorstellen, wie erfinderisch und hartnäckig
Kinder sein können, wenn sie etwas erreichen wollten. Von diesem Abend
an lagen sie ihrem Vater – dem Bauern dieses Bergbauernhofes – ständig
in den Ohren. Sie wollten die Tanne unbedingt weiter im Hof stehen haben.
Der Bauer meinte aber, er wolle heuer keine Tanne aus dem Wald als Weihnachtsbaum
holen, da diese alle zu jung seien. Die Kinder aber ließen nicht
locker. Sie versprachen sogar, den Baum im Hof persönlich mit Strohsternen,
Äpfeln und Girlanden aus Stroh schmücken zu wollen. So leicht
war der Bergbauer aber nicht zu überzeugen. Ein Bergbauer muss einen
starken Willen und viel Ausdauer haben, sonst könnte er als Bergbauer
nicht das Überleben seiner Familie sichern. Erst
als ihn die Mutter – die Bergbäuerin – fragte, ob er sich erinnern
könne, welche Bewandtnis es mit dieser Tanne hätte, wurde der
Bauer nachdenklich. Dann erzählte er davon, wie sein Vater –
der Großvater der Kinder, welcher vor fast zwei Jahren gestorben
war – bei der Geburt jedes Kindes einen sogenannten Lebensbaum gepflanzt
hatte. Und er erinnerte sich nun, dass diese Tanne sein Lebensbaum sei.
Ja der Bauer bemerkte jetzt, dass er eben unter dieser Tanne immer im Schatten
lehnte oder saß, wenn er über irgendetwas nachdenken wollte
oder einfach gemütlich seine Pfeife rauchte.
So kam es, dass damals
zu Weihnachten erstmals an diesem Bergbauernhof, eine lebende Tanne im
Freien als Weihnachtsbaum geschmückt wurde. Auch Kerzen wurden an
ihren Zweigen angezündet und sie erstrahlte in einer verschneiten
Märchenlandschaft unter einem zauberhaften Sternenhimmel nicht nur
für die Bergbauernfamilie sondern auch für die vorbeiziehenden
Wanderer, für die Familien der Nachbarschaft und die Tiere im Wald.
Dies war auch der
Ursprung eines inzwischen weit verbreiteten Brauches, Bäume und Sträucher
in Höfen, Gärten oder auf Plätzen inmitten von Städten
und Dörfern zur Freude der Menschen zu schmücken. |